Interviewfragen zur Ringvorlesung an Sybille Krämer

Aus welchem Anlass heraus beschäftigen Sie sich mit dem Thema ‚Schreiben’ und welche Rolle spielen dabei mediale/kulturelle Veränderungen?

Es gibt genau genommen zwei Anlässe:

(i) Als Sprach- und Medienphilosophin stieß ich auf den Unterschied von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Welche Bedeutung hat die Schriftverfassung der Sprache für die Entstehung und Systematik von Philosophie? Es geht nicht einfach um den bloßen Übergang von der Oralität zur Literalität im antiken Griechenland, welcher tatsächlich zusammen fällt mit der Entstehung von Philosophie, Mathematik und Kunst. Subtiler vielmehr ist der Sachverhalt relevant, dass ein neues Medium (= phonetische Schrift/Text) tradierte mündliche Verfahren, die im rechtlichen Kontext des Rechtsstreit um Wahrheitsansprüche praktiziert wurden, nun übertragbar werden auf in Texten geführte philosophische und wissenschaftliche Auseinandersetzungen und als Pro und Contra Eingang finden in geschriebene Werke. Möglich war diese epistemische ‚Aufladung‘ von Texten nur, weil der kanonische Heilige Text in der griechischen Religion keine Rolle spielte. Das Argument als eine regulierte Abfolge von Sätzen im Kontext eines begründenden ‚Für und Wider‘ scheint ein Abkömmling der Schriftstruktur der Sprache.

(ii) Im Horizont der Untersuchung operativer Bildlichkeit wurde mir klar, dass Tabellen, Schriften, Diagramme, Graphen und Karten, insofern sie hervorgehen aus der Interaktion von Punkt, Strich und Fläche etwas gemeinsam haben: Sie sind Früchte eines epistemisch eingesetzten Graphismus. Zeichnung und Schrift entspringen der gleichen Quelle. Wenn das so ist, greift die Interpretation der Schrift als aufgeschriebene/fixierte mündliche Sprache zu kurz. Wir haben daher die Schriften als Hybride aus Sprache und Bild aufzufassen.
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Wie beurteilen Sie die Bedeutung von Schreib- und Leseszenen im Kontext Ihrer Forschung/Ihres Vortrags?

Sowohl das Schreiben, wie das Lesen sind gewöhnlich semantisch gesättigte und gesteuerte Tätigkeiten. Wir bilden und rezipieren die sich wiederholende graphische Zeichenausdrücke in der Perspektive, dass diese eine Bedeutung haben und Sinn ergeben. Die Sinnlichkeit des Schreibens und Lesens – so jedenfalls scheint es - ist eine ‚Dienstleisterin‘, ist ein ‚Vehikel‘ für den Sinn. Doch augenfällig ist, dass eine Fülle von Schriftgebräuchen gerade auf der Außerkraftsetzung eben der Sinn-Dimension beruht, ohne dass diese dadurch ihren Schriftcharakter einbüßen. Denken wir an das Beispiel mathematischer Schriften: Wir müssen nicht wissen wofür die Null (‚0‘) als Zeichen steht, wie diese als Zahl überhaupt interpretierbar ist, um mit ihr korrekt rechnen zu können. Die Regeln des schriftlichen Rechnens sind Verfahren taktiler Zeichenmanipulation, die abstrahieren vom Bedeutungscharakter der Zeichen und sich auf die syntaktische Gestalt und räumliche Positionierung alleine beziehen. In dieser Fokussierung auf die Oberfläche der graphischen Gestaltgebung berühren sich übrigens Mathematik und Kunst (sofern letztere Schriftförmigkeit imitiert) ein Stück weit.
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Worauf deutet für Sie der Vorlesungstitel ‚Schreiben als Ereignis’ hin?

Wenn das Besondere der Schrift ihre auf flächigen Formationen beruhende simultane Räumlichkeit ist und wenn gerade darin sich Schriften von der sukzessiven Zeitlichkeit des Sprechens unterscheiden, so legt diese Sicht nah, Schriften vor allem als geronnene Struktur, mithin als Produkt und ‚Schriftstücke‘ zu betrachten. Das „Schreiben als Ereignis“ zu thematisieren, betont demgegenüber die Performativität des Schreibens. Eine Performativität, die eben nicht nur darin besteht, Zeichenreihen zu produzieren, sondern zugleich dasjenige zu erschaffen, was im Akt des Schreibens beschrieben oder besser: ‚erschrieben‘ wird. Die Schrift stellt nicht nur dar, sondern sie stellt her: Das gilt auch für die Idee der Sprache selbst. Erst das Dazwischentreten der phonetischen Schrift spaltet die aus Mimik, Gestik, Prosodie und Situationsbezug verwobene Kommunikation auf in einen verbalen und nicht-verbalen Strang von Kommunikation und macht das Verbale in seiner relativen ‚Autonomie‘ beobachtbar und analysierbar. In diesem Sinne lag Derrida nicht falsch mit seiner Annahme, dass die Schrift die Bedingung der Sprache als linguistischem Gegenstand sei.
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Sehen Sie Verbindungen/Gegensätze zwischen Ihrer Forschung und der ‚Bibliothek der unlesbaren Zeichen’/ der ‚Skripturalen Methode’?

Gerade die Künste machen die für gewöhnlich unauffälligen ‚transparenten‘ Medien opak und so zu einem durchaus störrischen Objekt von Anschauung, Bewusstwerdung und Einsicht. Die ‚Bibliothek der unlesbaren Zeichen‘ führt die medialen Bedingungen der Möglichkeit von Schrift vor Augen, ohne dass diese Bilder dabei in einen Text ‚degenerieren‘. Was wir sehen ist: Etwas Volumenhaftes wird in eine zweidimensionale Fläche der Inskription verwandelt, die ihrerseits formatiert ist und eine Ausrichtung (oben/unten, rechts/links) aufweist; Leerstellen und Lücken sind dabei ein organisierendes Prinzip; die Anordnung der Markierungen sind Spuren einer zeitraubenden graphischen Geste, die ihre Verwandtschaft mit dem Graphismus der Einzeichnung und Kritzelei nicht verbirgt; die Relation zwischen den Einzelmarken beruht auf der schematisierten Anordnung von Plätzen. Axel Malik sagt über seine Tätigkeit: „Er schreibt“. Schrift setzt Wiederholbarkeit von Zeichen voraus; doch Axel Maliks Zeichen sind höchst individuell und was sich wiederholt sind nicht die Zeichengestalten, sondern allein die Form ihrer schematisierten Anordnung. Es ist dieser zugleich provozierende wie radikale Zwang, die Schrift aisthetisch als eine schiere Konfiguration von Markierungen zu identifizieren, die eine neue Perspektive, zumindest eine interessante Dimension eröffnet in der Antwort auf die Frage: ‚Was ist Schrift?‘
Wenn ich selbst den Begriff der ‚Schriftbildlichkeit‘ zum Ausgangspunkt meiner philosophischen Reflexion der Schrift mache und wenn ich überdies die ‚Kulturtechnik der Verflachung‘ ins Spiel bringe, welche das gemeinsame Band bildet zwischenTabellen, Schriften, Diagrammen und Karten, so berühren sich diese Forschungsimpulse mit Axel Maliks künstlerischer Ambition (oder sollte ich sagen: Obsession?) Schriften auf ihre ‚Aisthesis‘ (griech. = ‚was zu Gesicht kommt‘), auf ihren Konfigurationscharakter zurückzuführen. Denn das Potenzial der Schrift beruht auf dem Faktum ihrer räumlicher Anordnung, welche immer auch umgeordnet werden kann: So eröffnet sich damit das Feld der Schriftakte, der Schriftspiele. Und dies ist ein Feld, auf dem sich beide, also Axel Maliks unlesbare Bilder wie auch generell lesbare Texte bewegen.
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In welchem Verhältnis steht der Begriff der Geste zu Ihren Überlegungen?

Schriften zehren vom Potenzial des rezipierenden Auges und der tätigen Hand. Das Visuelle und das Gestische der Schriften erinnern daran, dass es keineswegs ausgemacht ist, dass das an die Ohren gerichtete Sprechen die Grund- und Basisform unserer Sprachlichkeit bildet. Vielmehr scheinen das visuell Gestische und das auditiv Artikulatorische zwei eigenständige Springquellen menschlicher Darstellungsfähigkeit zu sein. Und in der Schrift verbinden und verbünden sich beide Seiten.
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Hätten Sie eine persönliche Frage an den Künstler?

Axel Malik besteht darauf, dass er ‚schreibt‘ (s.oben). Doch das Raffinierte seiner unlesbaren Zeichen gründet gerade darin, das Format des Genres ‚Text‘ aufzurufen, ohne dass Text dabei entsteht. Radikal ausgedrückt: Erzeugt wird ein Schriftbild ohne Schrift. Die künstlerische Evokation des Schriftlichen ruft zugleich den Ordnungscharakter der Schrift auf, um im selben Zuge die Systemhaftigkeit der Schrift zu sabotieren. Es geht hier nicht nur um die Eskamotierung von Sinn und Lesbarkeit. ‚Schrift als Zeichensystem‘ setzt die Wiederholbarkeit der Einzelzeichen voraus, die wiederum außer Kraft zu setzen ‚oberste ‘ Maxime für den Künstler ist. Wenn das aber so ist: Warum wird die Erzeugung von Schriftbildern bei Axel Malik so umstandslos nivelliert und geglättet zu seiner Aussage: was er mache sei ein ‚Schreiben‘? Nein, was im Akt der Inskribierung geschieht, ist Darstellung und Subversion von Schriftförmigkeit mit den Mitteln der bildenden Kunst. Und es sind wunderbare Bilder – nicht Schriften - die dabei entstehen! Und im künstlerischen Chiasmus von Darstellung und Außerkraftsetzung des Schriftprinzips tritt zutage, was die meisten Theorien der Schrift schlichtweg übersehen: Dass die Produktivität von Schriften in der Räumlichkeit ihrer zweidimensionalen Anordnung und nicht in der Imitation der linearen Sequenzialität des Sprechens wurzelt.
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