„Schriftbildlichkeit‘ Grundlinien einer Diagrammatologie

Sybille Krämer

1.JENSEITS DES ‚PHONOGRAFISCHEN DOGMAS‘?
Was ist ‚Schrift‘? Das phonographische Dogma Schrift sei fixierte mündliche Sprache, hat den Diskurs über Schrift lange bestimmt. Schrift gilt damit als eine Form von Sprache – und eben nicht als Bild. Zwar teilen Schriften mit dem gesprochenen Wort – so jedenfalls scheint es – vor allem dessen Linearität und Arbitrarität. Doch ein phonographisches Schriftkonzept greift zu kurz. Selbst im griechischen Alphabet wurden nicht nur Sprachlaute, sondern auch Töne und Zahlen notiert. Kreuzworträtsel, Musiknotationen, chemische Formeln, schriftliches Rechnen, oder auf Texte bezogen: Inhaltsverzeichnisse, Indices etc. zeigen, wie weit der Schriftgebrauch das Linearitätsprinzip überwindet. Graphische Attribute wie Unterstreichung und Kursivierung, Groß- und Kleinschreibung oder die Unterscheidung zwischen Fließtext und Fußnoten dokumentieren diese Überwindung auch für das Arbitraritätsprinzip. Das Konzept der ‚Schriftbildlichkeit‘ löst die gewohnheitsmäßige Anbindung der Schrift an gesprochene Sprache und strebt in alternativer Sicht ein lautsprachenneutrales Schriftkonzept an.

2. KUNSTSZENEN ODER ‚SCHREIBT AXEL MALIK‘? DIE SCHRIFT ALS PHÄNOMENALE ANORDNUNG

Der Künstler Axel Malik, dessen in der Bibliothek ausgestellte Werke diese Ringvorlesung begleiten und grundieren, sagt über seine Tätigkeit: „Er schreibt“. Es ist dieser zugleich provozierende wie radikale Zwang, die Schrift aisthetisch als eine formatierten Flächen eingeschriebene Anordnung von Markierungen zu identifizieren, der eine neue Perspektive eröffnet in der Frage: ‚Was ist Schrift? ‘Gerade die Künste machen die für gewöhnlich unauffälligen ‚transparenten‘ Medien opak und so zum durchaus störrischen Objekt von Anschauung, Bewusstwerdung und Einsicht. Axel Malik führt in seinem Werk die medialen Bedingungen der Möglichkeit von Schrift vor Augen, ohne dass seine Bilder dabei in einen Text ‚degenerieren‘. Was wir sehen ist: Etwas Voluminöses wird in eine zweidimensionale Fläche der Inskription verwandelt, die formatiert ist und eine Richtung (oben/unten, rechts/links) aufweist; Leerstellen und Lücken sind dabei ein organisierendes Prinzip; die Anordnung der Markierungen sind Spuren einer hochdisziplinierten, zeitraubenden graphischen Geste, die ihre Verwandtschaft mit dem Graphismus der Einzeichnung und Kritzelei nicht verbirgt; die Relation zwischen den Einzelmarken beruht auf der schematisierten Anordnung von Plätzen. All dies gilt für Maliks Bilder wie für geschriebene Texte.

3. MATHEMATIKSZENE ODER ‚RECHNET DER JUNGE GAUß‘? DIE SCHRIFT ALS OPERATIVES MEDIUM

Der Mathematiker Carl Friedrich Gauß löst als Schüler eine komplizierte Rechenaufgabe überraschend schnell. Schriftliche Zeichenreihen werden dabei so umgeformt, dass deren Lösung ‚ins Auge springt‘: Denkprozesse werden als Zeichenmanipulationen auf dem Papier realisiert. Die Ziffern des dezimalen Positionssystems und die Operationszeichen erschaffen eine symbolische Maschine arithmetischen Problemelösens im Medium der Schrift. Gauß‘ Lösungsansatz enthüllt das operative Potenzial von Schriften: Das Aufschreiben schafft Überblick; notiert wird keine gesprochene Sprache, sondern Zahlenverhältnisse, ausgedrückt in einer Ziffernschrift; die Positionierung der Zeichen spielt eine bedeutungstragende Rolle; diese werden angeordnet und können umgeordnet werden; dadurch wird ein Aspektsehen, ein Aspektwechsel initiiert, die eine mathematische Einsicht generieren kann.

4. SCHRIFTBILDLICHKEIT
Schriften sind Hybridbildungen aus Sprache und Bild. Diese Synthese von Diskursivem und Ikonischem entfaltet ein exploratives Potenzial, das weder auf Seiten ‚reiner‘ Bilder noch mündlicher Sprachen ein Analogon findet. Das allen Schreibverfahren eigene Zusammenspiel von Auge, Hand und Geist entfaltet sich in einem Rahmen, der durch vier Begriffe charakterisiert werden kann: (a) Räumlichkeit, (b) Graphismus, (c) Operativität und (d) Mechanisierbarkeit.

(a) RÄUMLICHKEIT: Zu schreiben hat Teil an den Kulturtechniken der Verflachung (für deren Evolution künstlerisch wie wissenschaftlich der Schattenriss grundlegend ist). Beim artifiziellen Sonderraum der Flächigkeit ist das leiblich uneinsehbare ‚Dahinter‘ oder ‚Darunter‘ eliminiert; dies gilt auch für andere Formen operativer Bildlichkeit wieKarten, Graphen, Diagramme. Mit dem Schriftbild ist die Synopsis eines Überblicks eröffnet. Topologische Relationen: oben/unten, rechts/links, zentral/peripher können als bedeutungstragende Matrix genutzt werden. Überdies sind Schriften diskret organisiert. Das unterscheidet sie grundsätzlich vom (gewöhnlichen) Bild. Die Räumlichkeit der Schrift ist als ‚Zwischenräumlichkeit‘ verfasst, welche ohne LeerstellenLücken nicht auskommt.

(b) GRAPHISMUS: Während es Sprach-Vorläufer in Gestalt signalsprachlicher Kommunikation auch bei Tieren gibt, findet sich nichts der Produktion von Bildern, Ornamenten und Notationen Vergleichbares vor dem Auftauchen des Menschen. Der Graphismus (graphein, griech.: einritzen) ist Ursprung der Zeichnung und der Schrift und begründet deren Familienähnlichkeit. Basiselement ist der Strich in seinem Doppelcharakter: Eine Linie ist die indexikalische Spur einer Geste und bildet diese – in gewisser Weise – durch Übersetzung zeitlicher Sukzession in räumliche Struktur ab; zugleich ist die Linie freier, kreativer Entwurf, die das Unsichtbare, das Unmögliche und das noch nicht Vorhandene graphisch realisiert. Die Linie markiert die Schwelle zwischen Sinn-lichem und Sinn, Körperlichem und Geistigem, wie eine Grenze, die keinem von beiden angehört, doch beide Seiten als eine Differenz überhaupt erst hervorbringt. Doch darf nicht vergessen werden: Die Bezugnahme auf etwas außerhalb des Graphismus unterscheidet die Schrift vom Ornament, auch wenn sie mit diesem Lineatur, Rhythmus, Repetition und das Schematische teilt.

(c) OPERATIVITÄT: Schriften sind Anordnungen von Zeichen, die immer auch umgeordnet werden können. Für unser Denken heißt dies: Amorphe Vorstellungs- und Empfindungswelten erfahren durch symbolische Exteriorisierung eine gedankliche Klärung und Strukturierung; unsichtbare ‚Wissensdinge‘ wie Zahlen erhalten eine sinnliche, handhabbare Signatur; komplexe Probleme können durch regelhafte Symbolmanipulation gelöst werden etc. Die Verknüpfung von artifizieller Räumlichkeit, Graphismus und Operativität ermöglicht Zeitachsenmanipulation: So kann aus dem ‚SARG‘ das ‚GRAS‘ werden und das Koordinatenkreuz repräsentiert negative Zahlen durch Umkehr der Richtung des Zahlenstrahls. Die Verräumlichung von Zeit in der Schrift stiftet den Freiraum reversibler Handlungen, die in der Welt der Ereignisse gerade nicht gilt. Hierin gründet die Affinität von Schrift, Formalismus und Spiel, die noch wenig erkundet ist.

(d) MECHANISMUS: Es gibt eine fundamentale Verbindung zwischen Schrift, Maschine und Computer. Der 
mechanischen Rechenmaschine ging das schriftliche symbolische Rechnen voraus und nicht zufällig ist die Turing Maschine ein Formalismus, also ein Schriftartefakt. Das Wort ‚Programmierung‘ erinnert daran, dass die Kommunikation zwischen Mensch und Maschine stets auf das Nadelöhr der Inskription angewiesen bleibt. Mit der Digitalisierung und Vernetzung gewinnt die Schrift neue Erscheinungsweisen und Funktionen: In Chatrooms und Emails nimmt der Schriftverkehr Attribute des Mündlichen an; in Computersimulationen wird Schriftstrukturen Zeit implementiert; der Link verkörpert eine Art ‚Selbstbewegung der Schrift‘; der Strichcode und seine Nachfolgetechniken (RFID) eröffnen das Internet der Dinge.

4. Diagrammatologischer Ausblick
Ist es möglich die ‚Grammatologie‘ in eine ‚Diagrammatologie‘ umzuschreiben und so die Schrift in einen weiteren – anthropologischen – Horizont zu rücken? Durch die Interaktion von Punkt, Linie und Fläche entstehen Darstellungsmöglichkeiten von unabsehbarer kognitiver und ästhetischer Wirkkraft. Alles was ist, was noch nicht ist und was niemals sein kann, lässt sich als eine zweidimensionale Konfiguration projizieren. Gegenüber der Eindimensionalität der Zeit und der Dreidimensionalität unseres Lebensraumes spielt die Zwei-dimensionalität eine besondere, übrigens auch ‚vermittelnde‘ (homogenisierende, übersetzende) Rolle. Allerdings: es gibt keine Flächen im buchstäblichen Sinne, aber wir behandeln Oberflächen durch Bebilderung und Einschreibung so, als ob sie keine Tiefendimension haben. Entgegen unserer wohlvertrauten abendländischen ‚Rhetorik der Tiefe‘, welche die Oberflächlichkeit stigmatisiert und den Tiefgang nobilitiert, steht die Kreativität der Erfindung der artifiziellen Flächigkeit derjenigen des Rades keineswegs nach. Was das Rad ist für die körperliche Mobilität und Kreativität, das leistet die inskribierte Fläche für die Mobilität und Kreativität des Geistes. Kant hat die Formen von Raum und Zeit (nahezu) gleichgestellt, Heidegger den Primat auf die Zeit verlegt. Doch immer, wenn wir uns nicht auskennen, sei es praktisch oder theoretisch sind es just Raumrelationen (und keine Relationen der Zeit!), die zum Medium von Orientierung und Reorientierung werden. Erkenntnis ist ohne eine Kartographie der ‚Wissensräume‘ in Form von Tabellen, Texten, Argumentstrukturen/Deduktionen, Graphen und Diagrammen undenkbar. Nicht nur in der Semantik unserer Sprache, sondern auch in den philosophischen Erkenntnistheorien selbst ist eine Präferenz für die Ordnungsform des Raumes unübersehbar - schon seit Platons Linien und Höhlengleichnis.

Diese Gedanken sind bereits veröffentlicht in:
Schriftbildlichkeit’ oder: Über eine (fast) vergessene Dimension der Schrift, in: Bild – Schrift – Zahl (Reihe Kulturtechnik), hg. v. S. Krämer undH. Bredekamp, 2003, München: Fink, 157-176. ‚Operationsraum Schrift‘. Über einen Perspektivenwechsel in der Betrachtung der Schrift , in: Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine(Reihe Kulturtechnik), hg. v. G. Grube, W. Kogge und S. Krämer, 2005, München: Fink, 23-61. Operative Bildlichkeit. Von der ‘Grammatologie’ zu einer ‘Diagrammatologie’? Reflexionen über erkennendes Sehen«, in: Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft, hg. v. M. Hessler und D. Mersch, 2009, Bielefeld: transcript, 94-123. Notationen, Schemata, Diagramme: Über ‚Räumlichkeit‘ als Darstellungsprinzip. Sechs kommentierte Thesen, in: Notationen und choreographisches Denken, hg. v. G. Brandstetter, F. Hofmann und K. Maar, 2010,Freiburg i. Br.: Rombach Verlag, 27-45. Punkt, Strich, Fläche. Von der Schriftbildlichkeit zur Diagrammatik, in: Schriftbildlichkeit: Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen, hg. v. S. Krämer, E.Cancik-Kirschbaum und R. Totzke,)2011, Berlin: Akademie, 79-100.